Wie gut sind unsere Schulen – Was muss anders werden?


Was brauchen unsere Schulen? Mehr Lehrer oder mehr Verantwortung? Das ist eine provokative Frage, aber sie soll am Ende beantwortet sein – gar nicht mehr provokativ.

Freilich wird diese Antwort auch eine Zumutung an den Besucher dieser Seite sein: Es gibt viel Text – vielleicht, weil der Autor unfähig ist, sich noch kürzer zu fassen; vielleicht weil die Welt doch komplexer ist, als manch politische Forderung vermuten lässt.

Wem es aber zu mühsam ist, sich durch den Text zu quälen – oder wer wissen will, ob sich das lohnt, der kann (sobald die Seite fertig ist) dann hier nach unten springen.

Herausforderung durch Digitalisierung

Was muss Schule leisten, wenn künftig das Wissen nicht nur im Netz liegt, sondern es auch vielfältige Lernplattformen zur individuellen Erschließung und Aneignung dieses Wissens geben wird. Braucht es dann überhaupt noch die Schule? Können dann die Kinder und Jugendlichen nicht besser von zu Hause lernen und können die Eltern dann nicht von der Plattform auch eine viel differenziertere Rückmeldung zu dem erhalten, was ihr Kind gemacht und am Ende auch geleistet hat? Der klassische Bildungsauftrag der Schule, der sich nach wie vor in Lehrplänen aber vor allem den Prüfungsanforderungen findet, könnte dies nahelegen. Aber Schule ist längt nicht mehr nur der Ort der Wissensbevorratung für das künftige Leben – sie ist auch Lebensraum und damit Ort der Sozialisation, des Zusammenlebens, des Erwachsenwerdens und Reifens. Mit den Veränderungen der digitalen Revolution wird diese Rolle stark wachsen: Familien und damit das häusliche Umfeld des Aufwachsens sind schon jetzt im Wandel begriffen. Wissen selbst wird nicht mehr die große Rolle im Arbeitsleben spielen – der Umgang mit ihm schon – und der Umgang mit anderen.

 

Und auch Eltern wird zunehmend wichtig, dass es ihren Kindern in der Schule auch gut geht. Aber sie wollen auch eine gesicherte Zukunft für ihre Kinder. Nicht selten beruhen die Konflikte, die Eltern und Lehrer austragen, auf dem, was Eltern von Schule erwarten und Lehrer leisten können oder wollen. Oder müssen: Denn beim Lehrer fokussieren sich die Unstimmigkeiten im System, er muss sie vermitteln, aushalten, ertragen: Er oder sie muss sich auf viele Kinder einlassen, als Fachlehrer können das schon mal 150 junge Menschen sein. Sie oder er muss zwischen den Leistungsanforderungen des Lehrplans und dem Entwicklungsstand der Kinder vermitteln und kann letzterem oft nicht gerecht werden. Das alles und viel, viel mehr verweist auf zwei strukturelle Probleme unseres (gemessen an den alten Anforderungen an Schule) doch so guten Schulsystems (nicht nur in Sachsen übrigens):
Zum einen können und müssen Lehrer nicht die Verantwortung wahrnehmen, die sie im Interesse der besten Förderung jedes Heranwachsenden übernehmen müssten.
Zum anderen schafft das deutsche Berechtigungswesen mit seinen Abschlüssen Druck vor allem auf viele Eltern, ihren Kindern einen höchstmöglichen Bildungsabschluss auf den Weg geben zu können.

Schule macht krank

Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass unsere Kinder auch durch die Schule krank werden. Mehr als die Hälfte aller Schüler leiden unter psychosomatischen Störungen, die mehr oder weniger durch die Schule verursacht sind: Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen. Die Ursachen liegen dabei in zwei Bereichen: Zum einen zu hohe und subjektiv als Belastung erfahrene Leistungsanforderungen der Schule, zum Teil auch durch zu hohe Erwartungen aus dem Elternhaus befeuert und verstärkt. Das betrifft vor allem Mädchen an Gymnasien. Zum anderen sozialer Stress aus dem Zusammenleben an der Schule, sei es Ablehnung/Ausgrenzung in den Lerngruppen oder Peers, sei es erlebte Ungerechtigkeit und fehlende Anteilnahme bei den Lehrpersonen. Das betrifft beide Geschlechter und alle Schularten, auch schon die Grundschule. Ganz knapp (und damit natürlich angreifbar) und zugespitzt: Schule stellt die falschen Anforderungen und lässt die Kinder sozial im Stich.

Das bekommen auch die Lehrer zu spüren, denn diese Berufsgruppe gehört zu den psychosomatisch am belastetsten. Davon zeugen die Frühpensionierungen und hohen Raten an Burn-Out, auch für Ostdeutschland in der sogenannten Schaarschmidt-Studie (Uni Potsdam) empirisch belegt. Beim Burn-out erwischt es immer vor allem solche Lehrer, die sehr engagiert sind – und den Erfolg nicht sehen oder nicht das tun können, was aus ihrer Sicht nötig sei. Auch hier arbeitet das jetzige System Schule gegen die eigenen Beschäftigten – weil es (und das schon ziemlich lange) nicht mehr in die Zeit passt.

Schule spaltet – Gemeinschaftsschule nicht

Dieser Druck setzt schon vor den eigentlichen Abschlüssen in der Grundschule ein, auch wenn die Bildungsempfehlung nicht mehr die ausschließende Rolle spielt. Aber nach der Grundschule wird die Schülerschaft gespalten, und zwar auch sozial. Das spüren Eltern. Und es macht etwas mit den Heranwachsenden und mit der Gesellschaft: Wir finden in der Schülerschaft im gegliederten System auf der einen Seite den Pool aus dem sich die späteren politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten generieren; auf der anderen Seite das gemeine Fußvolk. Natürlich ist die Grenze zwischen beiden fließend und durchlässig. Aber dort, wo junge Menschen nicht wenigstens bis nach der großen (Neu)Orientierung in der Pubertät zusammenleben und zusammen lernen und miteinander reden, dort verlieren die beiden Gruppen nicht nur die Sprach- und Empathiefähigkeit gegenüber der anderen Gruppe. Sie bauen auch meist eine Identität auf, die sich zu einem Teil negativ jeweils aus der anderen Gruppe speist:
Die „schlechteren“ Schüler, die die niedrigere Schule mit dem niedrigeren Abschluss besuchen, müssen dafür eine Legitimation finden, um nicht Selbstachtung und Selbstwert zu verlieren. Die anderen können nicht wirklich die „Besseren“ sein, sondern sind doch irgendwie „Idioten“, „Streber“, „Laberer“ oder dergleichen mehr.
Und die Gymnasiasten, die oft einem enormen Leistungsdruck in Schule und Elternhaus ausgesetzt sind, benötigen natürlich auch eine Legitimation dafür, dass sie den ertragen oder gar an ihm schwer tragen: es ist eben der Preis, weil man was Besseres ist. Im Ergebnis spalten wir mit dem gegliederten System schon in der Jugend die Gesellschaft. Während diese Spaltung in der industriellen Gesellschaft deren sozialer Struktur entsprach und deren Funktionalität eher stützte, wirkt sie heute eher zerstörerisch.

Neuer Bildungsauftrag

Dabei ist heute schon absehbar, dass die neuen digitalen Lernmöglichkeiten die einzige nichtsoziale Begründung für das Gymnasium obsolet machen: Mit adaptiven Lernplattformen bekommen Lehrer das Instrument in die Hand, was sie auch ohne überhohe Motivation in die Lage versetzt, sehr leistungsdifferenziert und damit schülerorientiert zu arbeiten. Trotzdem bedarf es einer Abkehr von der Wissensbevorratungs-Mentatlität und damit ein der digitalen Revolution entsprechendes neues Verständnis des schulischen Bildungsauftrages. Nur wenn wir die Schulen vom Joch der prüfungsgesteuerten Stoffvermittlung oder gar -schüttung befreien, kann sie sich der Ausbildung sozialer, personaler, kommunikativer, praktischer und für Problemlösung und Wissensaneignung nötiger Kompetenzen auf der Basis gefestigter Kulturtechniken und Wertvorstellungen sowie sicher verfügbaren Basiswissens widmen. Nur wenn wir ihr die nötigen technischen Mittel in die Hand geben, im wesentlichen eine universelle adaptive Lernplattform (BildungsCloud), kann sie sich auf diese Kompetenzen konzentrieren ohne in Gefahr zu geraten, ungenügend fachlich qualifizierte junge Menschen ins weitere Leben zu entlassen.

Kommunalisierung staatlicher Schulen

Eine Schule, die einen solchen Bildungsauftrag erfüllt, bedarf nicht mehr der zentralen organisatorischen Steuerung, sondern vielmehr der Übernahme der Verantwortung vor Ort. Die zentrale Steuerung digitalisiert sich in der BildungsCloud in Form der dort möglichen Lernstandsmessung, die auch für Abschlüsse (und zumeist ohne Prüfung) herangezogen werden kann. Der Ausweis der anderen Kompetenzen kann unterbleiben, die Einschätzung der Ausprägung derselben kann den späteren „Abnehmern“ (weiterführenden Bildungseinrichtungen, Arbeitgebern, Geschäftspartnern) überlassen bleiben. Die Verantwortung vor Ort kann am besten in kommunalen oder freien Schulen verankert werden – wie es die meisten anderen Länder und dort vor allem auch die erfolgreichen schon lange praktizieren. Eine Schule ist ja immer auch Lebensraum und damit ein Ort, der in sein soziales (kommunales) Umfeld integriert ist. Dazu muss dieses Umfeld Einfluss nehmen können und dazu müssen die Pädagogen diesem Umfeld rechenschaftspflichtig sein. Im Übrigen zeigen die freien Schulen in Sachsen, dass eine solche Sicht auf die Schule auch in Sachsen möglich ist. Nicht zuletzt erklärt sich auch daraus die Attraktivität freier Schulen für Eltern, die gerade diese Verantwortung der Schule wünschen.

Mehr Lehrer oder mehr Personal?

Aber dann wollen noch mehr Eltern ihre Verantwortung für ihre Kinder an der Schultür abgeben – das schallt gleich auch den Lehrerzimmern und verweist auf ein anderes Problem der herkömmlichen Schule: Sie ist eine Lernanstalt und bildet dafür auch die Lehrer aus. Für den Lebensraum Schule braucht es auch sozialpädagogische Kompetenz und wir müssen sie auf zwei Wegen in die Schulen bringen: Zum einen über die entsprechende Qualifizierung der heutigen und künftigen Lehrer; zum anderen über weitere Professionen in den Pädagogenteams der Schulen: Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen und möglicherweise auch verschiedene Therapeuten. Eines der Geheimnisse in Finnland (welches nicht die DDR-POS kopiert und importiert hat) war und ist gerade die Kommunalisierung der ehemals staatlichen Schulen. Dadurch hatten die Kommunen als gleichzeitige Träger der Jugend- und Sozialhilfe relativ schnell auch diese Ressourcen in die Schulen integriert. Und weil sich so die Schulen immer besser um die Heranwachsenden kümmerten, wurde auch der Lehrerberuf ein hoch anerkannter – eben weil die Schule ein wirklicher Partner der Eltern wurde, auch in schwierigen Fällen. Vielleicht sollten wir in die Lehrerzimmer hineinrufen, dass im Normalfall schlechte Eltern nicht schlecht sein wollen, es zum Teil gar nicht wissen und/oder es nicht besser können, teilweise selbst Hilfe benötigen. Warum sollen sie die nicht über die Schule bekommen? Freilich zählen auch Lehrer oft zu den Eltern – und gibt es auch unter diesen schlechte Eltern, denen aber eine sozialpädagogische Qualifikation schon ausreichend Hilfe wäre. Womit der Kreis geschlossen wäre.

Trotzdem ein Wort zur Gesundheit junger Menschen. Studien zeigen, dass die Wandlungen im familiären und sozial-medialen Umfeld zu ernsten Problemen der gesundheitlichen Situation unter Kindern und Jugendlichen geführt haben – vielleicht vergleichbar mit den Auswirkungen der frühen Industrialisierung, die ungebremst körperlich einen Teil der Gesellschaft ruinierte, wie sich dies nun eher psychosomatisch anbahnt. Man spricht von einer »neuen Morbidität« im Kindes- und Jugendalter, einer Verschiebung von den akuten zu den chronischen Krankheiten sowie von den somatischen Erkrankungen und Beschwerden zu den psychischen Auffälligkeiten und Störungen (Faktenblatt zu KiGGS Welle 1: Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Erste Folgebefragung 2009 – 2012).
Wir müssen aber auch sehen, dass es auch in Deutschland nach wie vor eine hohe Rate an häuslicher und auch sexueller Gewalt gegen Kinder gibt, die zu schweren seelischen Störungen bei den Kindern und Jugendlichen führen, die sich zum Teil erst mit und nach der Pubertät offenbaren (vergl. etwa Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers, Kapitel 14). Wer, wenn nicht die Schule, die alle Kinder und Jugendlichen erreicht, könnte hier im Zusammenwirken mit Kinder- und Jugendhilfe helfen – aber statt zu helfen, verstärkt sie oft die Probleme und verschleißt ihr Personal.

Brauchen wir nun also immer mehr Lehrer (die wir in absehbarer Zeit doch nicht haben werden) oder brauchen wir nicht zuerst mehr sozialpädagogische und therapeutische Kompetenz, auch mit entsprechenden anderen Berufen/Professionen in der Schule? Freilich in einer Schule, die die Fixierung auf Wissensbevorratung zugunsten einer breiten Kompetenzentwicklung aufgegeben hat. Es kommt nicht darauf an, wie viele Stunden sich Lehrer an Schülern abarbeiten. Es kommt darauf an, wie viele Stunden ein Schüler wirklich lernt.

Ein Wort zu den Seiteneinsteigern. Gerade am Umgang mit Ihnen kann man den Unterschied zwischen freien und staatlichen Schulen deutlich machen, wobei die Ausnahmen die Regel natürlich bestätigen:
An den staatlichen Schulen füllen Seiteneinsteiger Lücken, die die Schulverwaltung nicht mit „richtigen“ Lehrern schließen kann, auf die die Schule doch eigentlich Anspruch hat. Nur weil der Freistaat keinen Lehrer hat, muss sich nun die Schule mit dem Seiteneinsteiger rumschlagen, der zusätzliche Arbeit macht. Hier ist der Seiteneinsteiger ein Problem.
Anders an einer freien Schule: dort löst er ein Problem, weil nun der Unterricht in den entsprechenden Fächern abgedeckt werden kann. Natürlich wird die neue Kollegin unterstützt, denn man braucht sie ja und will sie behalten. Freie Träger haben hier Erfahrungen, weil sie schon früher, unter anderem wegen der schlechten Bezahlung, auf Seiteneinsteiger zurückgreifen mussten. Und sie haben meist auch positive Erfahrungen gemacht, die sie vor Überheblichkeit und Dünkel bewahren. Eine kommunale Schule, die wie die freie Schule die Verantwortung für die Bildung junger Menschen übernommen hat, wird sich auch hier wie eine freie Schule verhalten – und ihr Lehrerproblem lösen.

Fazit

Es gibt hinsichtlich der Schulen nicht nur in Sachsen drei große Aufgaben für die Politik:

  1. Bildungsauftrag einschließlich Folgen (Lehrpläne, Prüfungsanforderungen) von der Wissensbevorratung hin zur Ausbildung sozialer, personaler, kommunikativer, praktischer und für Problemlösung und Wissensaneignung nötiger Kompetenzen auf der Basis gefestigter Kulturtechniken und Wertvorstellungen sowie sicher verfügbaren Basiswissens wandeln.
  2. Schulen volle Verantwortung geben indem staatliche Schulen kommunalisiert und kommunale wie freie Schulen verlässlich auf die gleichen Ressourcen (Geld und Unterstützung) zugreifen können. Die Finanzen folgen den Schülern und nicht mehr den Strukturen – besondere Bedarfe werden berücksichtigt (individueller Förderbedarf, sozio-ökönomische Herkunft).
  3. Gymnasien und Oberschulen werden zu Gemeinschaftsschulen mit oder ohne Oberstufe – eine Trennung in verschiedene Bildungsgänge erfolgt frühestens ab Klasse 9. Wenn es hilft, dann heißt die neue sächsische Gemeinschaftsschule künftig Gymnasium.

Und was die Eingangsfrage betrifft: Unsere Schulen brauchen mehr Verantwortung und dafür auch mehr Personal – aber nicht notwendig mehr Lehrer, sondern neue Professionen, sozialpädagogisches und therapeutisches Personal.